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Zum Reformationstag
Heiligenstadt im Eichsfeld
Veröffentlicht von Thomas Schuster in Zeitgeschehen · Freitag 31 Okt 2025 · Lesezeit 6:00
Tags: LutherReformationstag
„Zu den tiefsten und zartesten, den feurigsten und leidenschaftlichsten Gefühlen, deren die Menschenseele fähig ist, gehört das Heimatgefühl. Wir alle lieben aus ganzem Herzen das Land, in dem wir geboren und groß geworden sind, das Land, in welchem und für welches wir arbeiten und wirken. Wir lieben die Sprache unseres Landes, jene Sprache, in welcher zuerst unsere Mutter uns Worte der Liebe und Fürsorge geschenkt hat, jene Sprache, in welcher wir als Kinder jubelten und klagten, jene Sprache, in der wir den ewigen Gott anzurufen gelehrt wurden, in der wir die Worte stammelten: Vater unser, der du bist im Himmel. Kein feinfühliger Mensch kann außerhalb seines Vaterlandes weilen, ohne hin und wieder von leisem Heimweh beschlichen zu werden, selbst dann, wenn er in einem schönen Lande weilt und von der Liebe gütiger Menschen betreut und gepflegt wird.

Und es gibt keine größere Freude auf fremder Erde, als einen Landsmann zu finden, dem man alle Gefühle des Herzens in der Muttersprache offenbaren kann, mit dem man viele Erinnerungen aus dem gemeinsamen Heimatlande austauschen kann. Das Heimatgefühl ist etwas Kostbares, etwas Großes und Heiliges. Doch es gibt nicht nur ein irdisches Heimatgefühl, sondern auch ein religiöses Heimatgefühl, das da gründet in der Liebe zu unserer Mutterkirche. Jene Kirche, in der wir als unwissende Kinder getauft wurden, in der wir Gottes Wort und Christi Evangelium vernommen haben, in der wir eingesegnet wurden zur treuen Nachfolge und zum mutigen Bekenntnis unseres Herrn, als wir das Mahl der Liebe feierten, in der wir zusammen mit unseren Glaubensbrüdern und Landsleuten beteten und sangen, diese Kirche ist unsere religiöse Heimat, und wir lieben sie als religiöse Menschen nicht minder als unser irdisches Vaterland.

Es gibt für einen Menschen, der Gott nicht nur in der Stille des Herzens, sondern auch in der Gemeinschaft mit den Brüdern sucht, nichts schmerzlicheres, als aus seiner Mutterkirche ausgestoßen oder gezwungen zu werden, sie zu verlassen. So wenig jemand Heimat und Vaterhaus vergessen kann, auch wenn er bei liebreichen Menschen wohnt, ebensowenig kann ein Frommer seine religiöse Heimat vergessen. Das Gefühl des Verbanntseins überkommt immer wieder seine Seele, er trägt eine Wunde, die nie ganz heilen kann. Glücklich sind die zu preisen, denen es gegönnt ist, in der Kirche, in der sie geboren sind, zu leben und zu sterben, die den Glauben der Kindheit durch ihr ganzes Leben ungebrochen tragen können. Das Religiöse ist etwas so Zartes und Geheimnisvolles, daß nur die Muttersprache imstande ist, es uns ganz nahe zu bringen. Das ist ein großes Gnadengeschenk, das wir der Reformation verdanken, daß sie die Muttersprache zur Sprache des Gottesdienstes machte, daß sie das Heilige der fremdsprachlichen Tracht entkleidete und in das traute köstliche Gewand der Heimatsprache hüllte. So tief auch der Eindruck sein mag, den die uralte Lateinsprache der römischen Kirche auf viele Gemüter ausübt, wir können sie doch nicht zum Dolmetscher unserer tiefsten und innigsten Gefühle machen: denn nur in der Muttersprache vermögen wir Gott das ganz auszusprechen, was sich in unserem Herzen regt, wenn wir ihm begegnen.

Darum ist der evangelische Gottesdienst ebenso Herzensgottesdienst, wie er Gemeindegottesdienst im eigentlichen Sinn des Wortes ist. Der Gebrauch der Muttersprache schlingt im evangelischen Gottesdienst ein enges Band um die mitbetende und nachbetende Gemeinde. Es ist ein erhebendes Gefühl, daß wir auch im christlichen Gottesdienst Kinder unseres Volkes sein dürfen, daß wir auch im Gottesdienst die Sprache unserer Väter reden dürfen und daß wir nicht heraustreten müssen aus dem trauten Lebenskreis. So ist zwar der Gottesdienst, den wir feiern, ein anderer als der, den unsere Brüder im Osten und Westen feiern und es ist die Sprache, die wir reden, eine andere als die, welche unsere Glaubensbrüder sprechen, dennoch fühlen wir uns betend eins mit der Gesamtheit aller Christusgläubigen. Wir alle heben ja die Hände empor zu dem einen gemeinsamen Vater, der sich in Christus geoffenbart und ein Gebet haben doch alle gemeinsam, das Gebet des Herrn. Die evangelische Christenheit hat dieses Gebet zum Höhepunkt des Gottesdienstes gemacht. In dem Augenblick, da das Vaterunser ertönt, da ist es, als brächen die Kirchenmauern zusammen, als fielen alle trennenden Schranken und als reichten sich alle Jünger Jesu auf Erden ihre Hände, um zusammen den Vater anzurufen, der im Himmel ist.

Dieses Gebet „bindet“ ja nach Luthers Worten „die Leute zusammen und ineinander, daß Einer für den Andern und mit dem Andern betet“. Das Vaterunser ist das Gemeinschaftsband der Christenheit, das Kennzeichen für die Christlichkeit eines Menschen. Alle dogmatischen Gegensätze, alle konfessionellen Unterschiede müssen verstummen, sobald dieses Gebet von einer andächtigen Gemeinde oder einer frommen Einzelseele gebetet wird. Hätte die Christenheit sich stets daran erinnert, was dieses Gebet bedeutet, dann wäre ihr viel Kampf und Zwietracht, viel Weh und Leid erspart geblieben. Hätte sie dieses Gebet ganz verstanden, dann hätte sie nicht so viel durch Lieblosigeit, Haß und Feindschaft sündigen können. Wir spüren heute mehr denn je die Zerrissenheit der Christenheit, die Zersplitterung zumal der evangelischen Kirche; wir suchen mit aller Kraft aus ihr herauszukommen und zur Einheit zu gelangen. Aber die Einheit der Kirche und die Gemeinschaft der Christenheit ist nicht erst der Zukunft vorbehalten, wir müssen nicht erst warten, bis mühevolle Menschenarbeit die zahllosen äußeren Hindernisse aus dem Wege räumt, die ihr entgegenstehen, sie ist vielmehr schon gegenwärtig, wir können sie jeden Tag und jede Stunde verwirklichen, wenn wir das Gebet des Herrn in jener Wahrhaftigkeit, in jener Versöhnlichkeit, in jenem Gemeinschaftsgefühl beten, wie es Jesus von uns verlangt. Mit solchen Gedanken feiern wir heute auf deutschem Boden schwedischen Gottesdienst.

Ihr seid glücklich in dem Bewußtsein, in einer Kirche deutscher Glaubensbrüder die klangvolle Sprache eures nordischen Heimatlandes zu reden und zu hören, in den Klängen eurer Mutterkirche die Worte der Heiligen Schrift zu vernehmen, in ihr die ehrwürdigen liturgischen Gebete und die alten herrlichen Gesänge des Reformationsjahrhunderts singen zu dürfen. Aber unser Herz schlägt heute nicht nur der Heimat und der Heimatkirche, sondern ebenso der großen umfassenden Kirche Jesu Christi, wenn wir zusammen das Gebet des Herrn sprechen. Da fühlen wir, daß wir viele nur eine Mutter haben in unsrer Kirche, da beten wir, daß aller Haß und alle Zwietracht aus den Herzen der Bekenner Christi hinweggenommen werden.“

Quelle: Heimatklänge aus dem weimarischen Kreise (Aus einer schwedischen Predigt; christliche Welt) Oktober 1920 – Bild: Bronzeepitaph Martin Luthers in der Stadtkirche Jena 2023 © Thomas Schuster Heiligenstadt


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