Aus dem Archiv: Vom Theologen zum Bauernführer
Eine Analyse von Werner Baumgarten:
„Will man die Persönlichkeit Thomas Müntzers und seine Rolle im Bauernkrieg verstehen, muß man die Entwicklung seiner Glaubenslehre kennen.
Müntzer war seiner Zeit „einer der gelehrtesten, fleißigsten und geistig regsamsten Kleriker Norddeutschlands“. Ja in theologischen und kanonistischen Fragen wandte man sich an ihn, den 27jährigen Theologen, als einen „virum perdoctum“ (sehr gelehrter Mann). Früh wird er ein Mitkämpfer Luthers. Aber nicht in leidenschaftlichen inneren Kämpfen wie Luther sucht er die Wahrheit, sondern sehr bald ist bei ihm das Bewußtsein ausgeprägt, in persönlicher Beziehung zu Gott zu stehen, die christliche Wahrheit zu besitzen.
Unter Einfluß des Zwickauer Schwärmers Storch trennt er sich von Luthers Rechtfertigungslehre durch den Glauben. Ein neuer Heilsweg erschließt sich ihm im Kreuz. Das schickt Gott dem Menschen, und er muß es ertragen, bis er in seiner Gebrochenheit den heiligen Geist empfängt und damit Sündenvergebung erhält. Wem der Heilige Geist sich offenbart hat, gehört zu den „Auserwählten“, und diese alle will Münter zu einem Bunde vereinigen. Müntzer gewann nun die Gewißheit, an sich das Kreuz erlitten und die Offenbarung des Heiligen Geistes erfahren zu haben. In dieser Gewißheit fühlte er sich verpflichtet und berufen, den noch „Unwissenden“ die Wahrheit zu verkünden und aus ihnen die Auserwählten aufzuspüren, um mit ihnen das Reich Gottes auf Erden aufzurichten. Dieses Bewußtsein seiner Sendung gab dem kämpferischen Menschen Müntzer die Kraft, gegen Papisten und Lutheraner als neuer Prophet zu predigen.
Mit dem Dogma des Geistesglaubens aber tritt Müntzer auch in Gegensatz zu Luthers Schriftglauben. Die Bibel behält für ihn zwar ihre Bedeutung als frühere Offenbarung des Heiligen Geistes, aber bedeutungsvoll für den einzelnen ist allein die enthusiastische Eingebung des Geistes im Innern der Menschen selbst. Diese Offenbarung kann jeder, auch der Laie, an sich erfahren. Sie ist das höchste Lebensziel, die Voraussehung dafür jedoch ist das Kreuzerlebnis und die Prädestination, zu den „Auserwählten“ zu gehören.
Es ist nun Höchst lehrreich zu sehen, wie Müntzer seine Lehre zu verbreiten sucht. Und das ist der Weg, auf dem aus dem Propheten schließlich der Bauernführer wird. Im Laufe seiner inneren Entwicklung hat er sich von der geistigen Führung Luthers und Storchs freigemacht und seine eigene Lehre ausgebildet. Seine nächste Aufgabe - nachdem der erste gewaltsame Versuch in Böhmen fehlgeschlagen ist - sieht er nun darin, auf friedlichem Wege in Briefen, Schriften und Predigten als Seelsorger und Prophet die „Auserwählten“ aufzuspüren und in einem Bunde zu sammeln. Dazu wendet er sich persönlich in Briefen an die Führer der Evangelischen, Luther, Melanchthon und Karlstadt (1522 - Juli 1524) und wirbt um ihre Seelen. Dazu wirkt er als Seelsorger seiner Gemeinde in Allstedt und gründet aus seiner Anhängerschaft dort, aber auch in der Umgebung bis nach Sangerhausen, Stolberg, Querfurt, Memleben und Frankenhausen hin einen „getreulichen Bund göttlichen Willens.
Als sich seinem Werben die Gelehrten und Häupter seiner Gegner versagen, er aber unter dem Volk schon eine große Anhängerschaft gewonnen hat, glaubt er entsprechend seiner Lehre gegen die Ungläubigen mit Gewalt vorgehen und sie ausrotten zu müssen.
Aber er braucht Bundesgenossen für diesen Kampf gegen die Ungläubigen und wendet sich an die Fürsten. Sie hätten die Pflicht, das Strafgericht an jenen zu vollziehen. „Wo sie das aber nicht tun, so wird ihnen das Schwert genommen werden.“ Gott wird es dann dem „inbrünstigen“ Volke geben. Als auch die Fürsten sich ablehnend verhalten, indem sie seine Drohungen nicht ernst nehmen, da ruft er das Volk auf gegen die Gottlosen unter der Parole: „er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen“. Damit tritt er ein in die letzte Periode seines Glaubenskampfes. Zu den „Gottlosen“ gehören jetzt, da sie sich versagt haben, auch die Fürsten und Herren. Diese „großen Hansen“ verachtet Gott. Sie verlangen Gehorsam und Ehre, die nur Christus gebührt. Sie hindern die „Auserwählten“ im Glauben, indem sie sie durch materielle Forderungen bedrücken, so daß sie bei ihrer Arbeit für die Tyrannen keine Muße haben, die Schrift zu lesen. So wird Müntzer zum revolutionären Propheten. Aber jetzt durchkreuzt er seine Glaubenslehre mit einer ihr widersprechenden Idee. Seine Lehre sagte, die materielle Not gehört mit zum Kreuz, das Gott den Menschen schickt, es zu ertragen als notwendige Vorstufe der Offenbarung. Jetzt aber ruft er auf zur Auflehnung gegen Bedrückung, also zur Beseitigung der materiellen Not.
Freilich sagt er zur Begründung, um die Schrift lesen zu können. Die Bibel aber ist, wie er immer wieder gegen Luthers Schriftgläubigkeit betont hat, nicht heilsnotwendig, das Kreuz aber ist heilsnotwendig. Es wird also die grundlegende Lehre von der Kreuzesmystik in dem Streben, sie zu verbreiten, in ihrem Kern von Müntzer selbst angegriffen. Diesen Widerspruch hat Müntzer selbst gefühlt. Die sich daraus ergebende innere Unsicherheit wird in seinen Schriften dieser letzten Periode erkennbar und gewährt einen Einblick in die Tragik seines Lebens. „Daraus ließe sich nicht nur der Zusammenbruch im Angesicht des Todes, sondern auch das Krankhaftübersteigerte seines letzten Lebensjahres erklären. Er wird immer mehr in die Ideekreise der Bauern hineingerissen, so daß er die Augen davor verschließt, damit sein Letztes, Eigenstes, seine Lehre in ihren Grundfesten zu gefährden. Dabei kann unter Einsichtigen kein Zweifel darüber bestehen, daß die politischen und sozialen Forderungen, die er von den Bauern übernimmt, für ihn nicht Selbstzweck sind, sondern bis zum letzten Augenblick nur Mittel zum Zweck, seine religiösen Absichten im Endziel zu verwirklichen. …“

Quelle: Werner Baumgarten in „Mühlhäuser Geschichtsblätter“ 1933-1935 – Bild: Thomas Müntzer – Skulptur der Bildhauerin Hildegard Weigel