Aus dem Archiv: Neujahr 1913
Veröffentlicht von Thomas Schuster in Thüringen · Dienstag 31 Dez 2024 · 4:15
Tags: Neujahrsansprache, 1913
Tags: Neujahrsansprache, 1913
„Vergangenheit und Zukunft stoßen in diesem Worte zusammen. Wie in den Ländern der heißen Zone Tag und Nacht sich berühren ohne die milde, versöhnende Dämmerung, so treten sie heute hart aneinander, die Vergangenheit und die Zukunft. Ein den ein stiller Augenblick, da diese beiden Starken sich gegenüberstehen. Die eine redet, und die andere schweigt. Die Vergangenheit spricht und erzählt aus alten, aus schönen und aus trüben Tagen. Sie weiß zu erzählen von Jugendlust, da das Leben schäumt, und das Herz jauchzt: Wie bist du doch so schön, o du weite, weite Welt! Aber sie redet auch von den Enttäuschungen, von dem Ringen ums Licht, von dunklen Stunden, von Not und Tod und von den Gräbern ..
Mit feiner Feder hat die Vergangenheit wieder ein Blatt im Leben des einzelnen beschrieben; mit starkem Griffel schreibt sie die Geschichte der Völker, auch unseres deutschen Volkes. Und heute wendet sich ein Blatt, darauf 1912 gestanden, unbeschrieben liegt ein neues da, die Seite 1913. Was wird in Jahresfrist auf diesem Blatte verzeichnet stehen? Wer vermag es zu künden? - Blättern wir in dem großen Geschichtsbuch um hundert Seiten zurück, da finden wir mit goldenen Lettern verzeichnet die Jahreszahl 1813. Über diesem Blatte liegt es wie der Frühlingsglanz einer neuen, besseren Zeit, da unser Volk aufwachte, da Gott, Ehre, Tugend und Gewissen wieder Lebenswerte, Großmächte wurden für den einzelnen wie für das Volksganze, für die man die größten Opfer zu bringen bereit war. Und heut? . . Will's uns nicht scheinen, als wollte es Herbst und Winter werden im religiös - sittlichen Leben unseres Volkes? Kann unser Volk noch Opfer bringen? Unsere Frauen haben vor hundert Jahren ihr Haar auf dem Altar des Vaterlandes geopfert, Gold gaben sie für Eisen, und heut stürmt beim unbestimmten Gerüchte von einer Kriegsgefahr die Menge in die Sparkassen und sichert sich ihr Geld. Die Jagd nach dem Golde hält Zehntausende in unserem Volk in atemloser Hast, macht sie blind gegen die innere Not unseres Vaterlandes. Und das ist die tiefste Not unseres Volkes, daß der einzelne in Gefahr steht, über seinen selbstischen, persönlichen und Parteiinteressen die Hingabe ans Volksganze zu verlernen. Einer trage des anderen Last!
Wie weit scheint man sich heut im allgemeinen von dieser goldenen Regel entfernt zu haben! Jeder geht seinen eigenen Weg. Wer am lautesten und geschicktesten es versteht, an die Unzufriedenheit der Massen zu appellieren, der wird des Volkes Führer; aber über den wirklichen Volksfreund stürzen sich die Nörgler und machen ihn mundtot. Daher all die Unsicherheit und Zerrissenheit, die auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens wie chronische Krankheitserscheinungen am Volkskörper uns entgegentreten, daher die nervöse Hast, mit Vorbeugungsmitteln zu helfen, wo Radikalkuren nur wirkliche Heilung bringen können.
Will sich da nicht an der Jahreswende der Ruf uns auf die Lippen drängen: Schweige, Vergangenheit! Rede du lieber, du unnahbare Zukunft, und künde uns unseres Volkes Geschick und Ziel, dem wir entgegensteuern!?
Und bleibt auch die Zukunft stumm, so vermögen doch Gegenwart und Vergangenheit hier wertvolle Winke und Weisungen zu geben. Wer es versteht, unserer Zeit den Puls zu fühlen, sieht in all der Verrissenheit und Zerfahrenheit unseres öffentlichen Lebens nur ein Anzeichen dafür, daß sich unsere Zeit im innersten Grunde nach rechter Befriedigung sehnt. Ein Suchen und Fragen nach wahren Lebenswerten, die Sehnsucht nach dem inneren Frieden steckt unserem deutschen Volke doch zu tief im Blute. Und diese Erkenntnis ist die beste Medizin gegen allen schwarzseherischen Pessimismus, den verhängnisvollsten Feind unserer Zeit.
Wer aber kündet unserem Volke den rechten Weg um Frieden? - Vor vielen, vielen Jahren machten sich einst drei Männer auf einen weiten Weg. In ihrer Seele war die Sehnsucht nach dem Frieden erwacht. Ein großer Stern, so hieß es in ihrer Überlieferung, sollte ihnen den Weg zum Frieden weisen. Und sie suchten den Stern mit brennender Seele, und da sie ihn sahen, wurden sie hocherfreut. Es war der Stern von Bethlehem, der ihnen kündete, daß der Heiland der Welt geboren. - Unter dem Knechtschaftsdrucke des Korsen (Napoleon) fand unser Volk vor 100 Jahren wieder die Richtung zu diesem Sterne, der ihm den Weg zu Freiheit und Glück wies. - Hat unser Volk heute die Richtung auf diesen Stern verloren? - Das Glück unseres Vaterlandes wird davon abhängen, ob unser Volk wieder diesen Stern findet.
Quelle: Monatsblatt für die Gemeinden Bischleben, Rhoda und Stedten Nr. 27 im Januar 1913 - Bild: 1903 Postkartendetail Fundus Franz Bader