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Aus dem Archiv: Geleitwort zum ersten Heft „Unser Eichsfeld“ Januar 1906
Heiligenstadt im Eichsfeld
Veröffentlicht von Thomas Schuster in Eichsfeld · Samstag 14 Sep 2024
Tags: Eichsfeld
„Für uns Eichsfelder von heute hat die Heimat nicht mehr dieselbe Bedeutung, die sie für unsre Väter gehabt. Ihnen war sie das einzige Fleckchen Erde, auf dem sie sich wirklich wohl fühlten, wo sie in ihrem Element waren mit Körper und Geist, und wohin sie jedesmal mit Erleichterung zurückkehrten, wenn des Daseins Not, die Pflicht zu verdienen für Weib und Kind, sie hinausgetrieben hatte weit weg in die Fremde, in die böse Welt. Da draußen fanden sie alles so anders wie zu Haus: Die Menschen redeten von anderem als sie in ihrem Dörfchen daheim, und noch dazu in anderen Idiomen (regionale Gruppe). Ihre Kleidung fiel auf, man sah hinter ihnen her, und sie Kinder lachten vielleicht über die herunterbaumelnde Zipfelmütze. Das Leibgericht war nicht zu finden, und was man fand, dass schmeckte so ungewohnt. Das Behagen kam nicht, sie waren Fremdlinge, wohin immer sie den Fuß setzten. Wir begreifen, wie glücklich sie sich schätzen mußten, wenn sie aus dem Fremdartigen wieder zurückkamen nach dem heimatlichen Dorf.

Anders mit uns! Die sich ausbreitende Kultur hat als nicht in ihr wesentlich bedingten aber doch stets ihr nachschreitenden Trabanten den äußeren Ausgleich hinter sich gehabt. Die Interessen sind allgemeiner, Sprache und Kleidung ist dieselbe, die Lebensweise einheitlicher geworden. So leben wir uns überall leicht ein, wir fühlen uns auch anderswo schnell „heimisch“. Aber trotzdem übt auch auf uns noch die Heimat einen eigenartigen Zauber aus. Nicht mehr zwar ist sie uns die allem beseligende Insel, zu der wir erlöst nach unruhiger Seefahrt zurückkehren: uns ist sie das liebliche Eiland, das anmutig vor uns auftaucht, wenn immer eine Erinnerung aus seliger, sorgloser Kinderzeit uns lächelt, das uns zurücklockt mit schmeichelndem Mutterlaut zu seinen Gefilden, die wir in Frohsinn und Unschuld durchtobt, das uns zuruft, daß wir es hier einmal besessen, das Glück, das wir jetzt suchen Tag für Tag.

Unsern Vätern bleibende Bedingung des Glücks, uns unzertrennlich verbunden mit der Erinnerung an unsers Lebens goldigste, wonnevollste Zeit, und uns stets von neuem in ihren Bann zwingend mit allem, was da ist von ihrer Gestalt, ihrem Hauch, ist die Heimat beiden ein unschätzbares Gut. Aber es besteht ein Unterschied in seinem Besitz. Jenen schwand dies Gut, als erkannt reales, nicht leicht; sein Wert zeigte sich ihnen so klar, daß es nicht verkannt werden konnte. In uns hat es, als anscheinend nur ideelles, nicht dieselbe feste Wurzel. Wurde früher bei längerer Gewöhnung an die Heimat mit all ihren Eigenheiten der Gegensatz zu dem Fremden immer empfindlicher und damit ihre Wertung und die Liebe zu ihr immer größer, so wird jetzt bei der zunehmenden Gewöhnung an das Allgemeine, Gleiche, dessen Wertschätzung stärker, die Liebe zu dem spezifisch Heimatlichen aber geringer; eine Entwicklung, der die mit steigendem Alter mehr und mehr erblassende Erinnerung an die Jugend und was sie uns verschönt kein genügendes Gegengewicht ist. Das Heimatgefühl stirbt ab.

Diesem Werden der Dinge kann vorgebeugt werden ohne Kunst und Zwang. Allein dadurch, daß man das, was in uns natürlich sich entwickelt, hegt und pflegt, ihm Nahrung gibt, die allem Lebenden zukommt.

Der Schule vor allem fällt diese Aufgabe der Pflege des Heimatgefühls zu. Denn sie ist der Garten, in dem in erster Linie die Keime, die in der Kinderseele ruhen, zu schöner Entwicklung gebracht werden sollen. Ihr aber sind nur die Kinder überlassen. Indes auch der Erwachsene bedarf für das Gewächs seiner Heimatliebe des vor dem Welken schützenden Wassers. Er komme hierher und schöpfe!"

Greifswald am Weihnachtstage 1905, Dr. Konrad Hentrich

Quelle: Unser Eichsfeld Heft 1/1906 – Bild: Heiligenstadt Gemälde von E. Regler



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