Aus dem Archiv: Der Martinstag in Thüringen
„Am festesten sitzen die Feste im Volke, die aus grauer Vorzeit stammen. So ist es auch mit dem Martinstag, der schon gefeiert wurde, noch ehe an den Bischof Martin von Tours oder an Martin Luther zu denken war. Auch dieser Feiertag birgt wie alle christlichen Feste innere Zusammenhänge mit dem religiösen Leben unserer germanischen Vorfahren, an die ja die chistliche Kirche aus Gründen ihrer Machterweiterung stets anzuknüpfen suchte. Das uralte Martinsfest ist heidnischen Ursprungs und ist aus dem altgermanischen Herbstfest, das nach vollendeter Ernte gefeiert wurde, hervorgegangen. Es war dem Schutzgott der Ernte, dem Wotan, geweiht, der in wallendem Mantel auf hohem Roß durch die Luft ritt. Ihm zu Ehren wurden am Herbstfeste Gänse geopfert, der neue Wein geprüft und Feuer angezündet. Man aß zu Martini fette Gänse, die auch an Klöster und Erbzinsherren bis in das vorige Jahrhundert hinein geliefert werden mußten, man verzehrte Hörnchen, die an die Hufe von Wotans Roß erinnerten, und brannte Wachslichter zur Erleuchtung der Straßen und Gassen.
Aus dem Erntedankfest wurde unter christlichem Einfluß das Fest des heiligen Martin von Tours, eines fränkischen Nationalhelden, das auf den 11. November fiel. Er war es, der einst als Krieger seinen Mantel mit einem frierenden Bettler teilte und der Sage nach durch schnatternde Gänse verraten wurde, als er sich bei seiner Ernennung zum Bischof versteckt hatte. Der Heilige führte in seinem Wappen die gebratene Martinsgans und den Kelch. Der Martinstag wurde am Vorabend durch Einläuten gefeiert, der Tag selbst durch Gänseschmaus, Martinstrunk und viel Geleucht. So hat die Gans der Wotansfeiern ihre Bedeutung bis für den heutigen Tag behalten. Das Verschen, das z. B. die Erfurter mit Lichtern umherziehenden Kinder ursprünglich am Martinstage sangen, galt dem alten Opfertier, der Gans.
In seiner ältesten Form heißt es:
Gik, gak, gik, gak,
ferr a Dreier Schnupptewak,
ferr die aln Weiber,
ferr die aln Donnerkatzen,
die sich heng'n onn vorne kratzen!
Später, nach Luther, feierte man das evangelische Martinsfest am 10. November an Stelle des alten. Im Anschluß an die Jubelfeier der Reformation 1817 dichtete Diakonus Lossius, an der Predigerkirche zu Erfurt, das schöne Verschen:
Martin ist ein braver Mann,
brennet viele Lichter an,
daß er oben sehen kann,
was er unten hat getan.
Er ließ dieses Lied von den mit Papierlaternen und Lichtern umherziehenden Kindern am Abend des Geburtstages unseres großen Reformators singen. So ist aus dem alten Martinsfest vielerorts eine würdige Lutherfeier geworden, die am 10. November begangen wird. Wo sie aber nicht so wie in Nordhausen, Mühlhausen und Erfurt gefeiert wird, da verzehrt man doch mindestens an diesem Tage oder doch um „Martini“ herum den leckeren Gänsebraten mit Thüringer Klößen! Da die meisten Kirmsen, das sogenannte „Landfressen“, um die Zeit von Martini fallen und man die Kirchen an den Stellen der heidnischen Opferstätten errichtete, so scheint tatsächlich ein Zusammenhang zwischen dem altgermanischen Herbstfest und den Kirmsen zu bestehen, denn die meisten Kirmsen sind eben Herbstkirmsen.
Wo sich die alte Einrichtung der Kurrende erhalten hat, der ja auch Luther in Eisenach angehörte, oder wo sie durch pietätvoll Empfindende wieder ins Leben gerufen wurde, werden am Martinstage entsprechende Gesänge an den Stätten, die an den Reformator erinnern, zu Gehör gebracht. Der Martinstag, wie er heute gefeiert wird, ist vorwiegend ein Fest der Jugend = abgesehen von dem Gänsebraten!
Quelle: Jenaer Volksblatt 1936-1941 - Bild: St. Martin in der Erfurter Michaeliskirche © Thomas Schuster